Montag, 31. Januar 2011

Arabische Revolution!

Arabische Revolution? Tunesiens Aufbruch nach der Flucht Ben Alis – Der Aufstand der tunesischen Bevölkerung gegen das Regime des am vergangenen Freitag geflohenen Diktators Zinedine Ben Ali hat die Weltöffentlichkeit überrascht und die Menschen in der arabischen Nachbarschaft beeindruckt. Zum ersten Mal haben die Bürger eines arabischen Landes ihren Despoten ohne äußere Einflussnahme und ohne dass dahinter ein freiheitsfeindlicher Islamismus sich den Weg bahnt, sprichwörtlich zum Teufel gejagt.


Doch die größte Herausforderung steht nun erst bevor: Kann Tunesien es schaffen, aus dem Vakuum ein freieres und offeneres System zu schaffen? Noch ist unklar, welche Rolle das Militär spielen wird, welche oppositionellen Kräfte an Einfluss gewinnen und wie die Unterstützer des geschassten Präsidenten Ben Ali eingebunden werden. Auch in der autoritär regierten Nachbarschaft, in der die Bevölkerung mit Bewunderung auf das blickt, was den Tunesiern gelang, haben viele ein Interesse daran, das tunesische Experiment scheitern zu sehen. Die Europäische Union und vor allem Frankreich haben sich im Umgang mit Tunesien und in ihrer Reaktion auf die Ereignisse der vergangenen Wochen nicht mit Ruhm bekleckert. Einzig die USA haben sich klug zurückgehalten und auch Deutschland, dessen maßvolle Ermutigung zum demokratischen Aufbruch in Tunesien und darüber hinaus mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen wurde, kann bei der Bewältigung der kommenden Herausforderungen eine wichtige, ausgleichende Rolle spielen.

Eine Arabische Revolution? Tunesiens Ruf nach Freiheit

Ausgerechnet Tunesien hat es allen gezeigt: Der Ruf nach Freiheit in der arabischen Welt ist nicht das Ergebnis westlicher Subversionstaktik, nicht der Deckmantel unter dem sich Islamisten den Weg zum Gottesstaat bahnen. Er ist der Ausdruck von Menschen, die genug haben von den täglichen Erniedrigungen, Einschüchterungen und der Missachtung ihrer Menschenwürde, die das Leben in jeder Diktatur mit sich bringt. Als erste in der arabischen Welt hat die tunesische Bevölkerung ihren Peiniger aus dem Land gejagt.

Erst langsam dämmert es den Menschen, dass sie Neuland betreten, Geschichte geschrieben haben. Und dass das schwerste Stück des Weges nun vor ihnen liegt: Aus dem Nichts einer in Jahrzehnten der Diktatur anämisch gewordenen Gesellschaft ein neues Land zu schaffen, das seinen Bürgern ein Leben in Würde und in mehr Freiheit ermöglicht. Man wünscht es dem tunesischen Volk und der gesamten Region, dass auch dieser nächste Schritt gelingen möge und ihnen nicht das nächste Joch bereits übergeworfen wird.

Es wird eine ganze Weile brauchen, bis aus dem Chaos, das diesem unerwarteten und bis vor einer Woche weitgehend unbemerkten Aufstand folgen wird, Tendenzen für die weitere Entwicklung erkennbar werden.

Tunesien nach dem Umsturz: Aufbruch in neue Zwänge oder Schritt in die Freiheit?

Dies betrifft zunächst die Situation in Tunesien selbst, wo bislang nicht einmal absehbar ist, wer in der unmittelbaren Folgezeit ein Minimum an Ordnung sicherstellen kann. Das Militär spielt eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der Ausgangssperre und bei der Festsetzung der Reste des Sicherheitsapparates von Ex-Präsident Ben Ali. Eng arbeiten die Soldaten mit den Bürgerwehren zusammen, die die von Plünderungen bedrohten Stadtteile schützen. Militärchef Rachid Ammar hat sich früh geweigert, auf die Demonstranten zu schießen, ob aus Kalkül oder Humanität wird sich erst zeigen müssen. Fest steht, dass das Militär, das in der Politik Tunesiens – im Gegensatz zu den Nachbarländern – bislang keine dominante Rolle spielte, an Prestige und Einfluss gewonnen hat.

Die Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit erscheint ein logischer Schritt, um politische Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Fraglich ist jedoch, wie repräsentativ diese unter den gegenwärtigen Umständen ist. Sowohl die Einheitspartei RCD des Ex-Präsidenten Ben Ali als auch die „Blockflötenopposition“ wird man in irgendeiner Form einbinden müssen, wenn die Grundlagen für einen demokratischen Übergang geschaffen werden sollen. Gleiches gilt für die in der Illegalität und zumeist im Exil lebende Opposition. Ebenso wird die Ausrichtung freier und fairer Wahlen in Tunesien eine enorme Herausforderung sein. Der verfassungsmäßig vorgegebene Zeitraum von 60 Tagen für die Durchführung von Parlamentswahlen scheint nicht einmal ausreichend, um die Logistik sicherzustellen. Geschweige denn lässt er der diffusen Bürgerbewegung Zeit, sich zu strukturieren und in politischen Gruppierungen zu organisieren.

Die Frage nach der Rolle der Islamisten ist von entscheidender Bedeutung. Nicht so sehr, weil sie aus dem Nichts zur Machtübernahme schreiten werden, denn dafür sind sie – wie alle oppositionellen Kräfte – viel zu schwach. Vielmehr deshalb, weil der Westen weiterhin aus Furcht vor ihnen wie gebannt auf eine weiße Wand starrt. Hoffentlich nicht so lange bis das von Diktatoren in der gesamten Region immer wieder hochgehaltene Schreckgespenst wirklich erscheint. Religiöse Parteien werden sich auch in Tunesien um politischen Einfluss bemühen. Nirgendwo in der arabischen Welt haben sie vermutlich weniger öffentliche Unterstützung als im aufgeklärten, von einer großen und gut ausgebildeten Mittelschicht geprägten Tunesien.

Regionale Auswirkungen: Bewunderung der Straße und Angst der Despoten

Ebenso unklar sind die regionalen Auswirkungen auf den Maghreb und den Nahen Osten insgesamt, wo die Bürger Algeriens, Libyens und Marokkos und darüber hinaus mit einiger Bewunderung auf das blicken, was den Tunesiern bislang gelang. Gleiches gilt in umgekehrter Form für die Machthaber dort. Viele der Probleme, die die Revolte in Tunesien ausgelöst haben, finden sich in der gesamten Region. Gleichwohl unterscheiden sich die Länder, was ihre Geschichte und ihr politisches System betrifft, nicht unerheblich. Viele dieser autoritären Regime haben ein starkes Interesse, das tunesische Experiment scheitern zu sehen. Wie wird sich Libyens Staatschef Ghaddafi verhalten, der mit gutem Recht das Schlimmste zu fürchten scheint? Schon gibt es Berichte über Infiltration libyscher Milizen über die offene Grenze. Was machen die Saudis, die in Tunesien nicht unerhebliche Mengen an Geld investiert haben? Sicherlich hat man dem geflohenen Diktator nicht ohne Grund Asyl angeboten.

Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union: ein Scherbenhaufen

Auch auf der anderen Seite des Mittelmeers sind die Folgen zu spüren. Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union ist ein Scherbenhaufen: Der gehätschelte Despot, mit dem man eben noch am Verhandlungstisch saß, um über die Zuerkennung des privilegierten „statut avancé“ in der Assoziation mit der EU zu verhandeln, wird derweil von seinem eigenen Volk aus dem Land gejagt. Diese von dem Primat der Stabilität und den Partikularinteressen einzelner Mitgliedsländer getragene Politik der Anbiederung ist für alle sichtbar grandios gescheitert. Fraglich ist damit auch, welche Rolle die so bloßgestellte EU nun dabei spielen kann, Tunesien in eine bessere Zukunft zu begleiten.

Ebenso wie der davongejagte Ben Ali hat die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, die in der Region Maghreb weiterhin eine Schlüsselrolle spielt, die Zeichen der Zeit wie der geschasste Duzfreund Ben Ali zu spät erkannt. Noch vier Tage vor der Flucht des Diktators bietet Außenministerin Alliot-Marie dem Regime in der Nationalversammlung die Entsendung französischer Sondereinheiten zur Eindämmung der Aufstände an. Auch das werden die Tunesier in langer Erinnerung behalten.

Kluge Zurückhaltung: Endlich ein Erfolg für die amerikanische Außenpolitik in der Region?

Vor allem die Vereinigten Staaten haben sich im Laufe der Entwicklungen bislang klug zurückgehalten. Außenministerin Clinton hat einige wenige aber wichtige Akzente gesetzt. Früh hat sie das Recht der Tunesier hervorgehoben, über ihre politische Führung selbst zu befinden. Darüber hinaus hat sie sich nicht auf eine Position festgelegt. US Präsident Barak Obama lobt nun den Mut der Tunesier. Kommt das Mittelmeerland auf den richtigen Weg, wird dies auch ein lang ersehnter Erfolg für die amerikanische Außenpolitik in der Region sein.

Deutschland als Mittler

Auch die Haltung der Bundesrepublik wird in Tunesien und der Region mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Vor allem deshalb, weil Deutschland in dieser unübersichtlichen Situation nicht einem der verschiedenen Lager zugerechnet wird. Die maßvolle Ermutigung zum demokratischen Aufbruch ist bei den Bürgern Tunesiens auf offene Ohren gestoßen. Dieses Vertrauen zu nutzen, um die tunesischen Bürger bei der Verwirklichung von mehr Freiheit zu unterstützen, wird die Herausforderung in den kommenden Wochen und Monaten sein. Angesichts des Mutes und der Zivilcourage, die die Menschen in den letzten Wochen gezeigt haben, erscheinen die absehbaren schlaflosen Nächte als der geringste Preis.

Veröffentlicht am Montag, 17. Januar 2011 von Alexander Knipperts in Außen- und Sicherheitspolitik